Zoff in der Medizinbranche: Schweizer Spezialärzte gründen Tarifunion ohne den Dachverband FMH

Thoracic surgery

Die Schweizer Spezialärzte wollen die Tarife ab sofort wieder selber verhandeln. Im Bild: Eine Operation am Thorax (Bustkorb), Bild: Fluoroscopic, Flickr

Tarife – Der Schweizer Ärztedachverband FMH vertrete die Spezialärzte bei den Tarifverhandlungen schlecht, finden diese. Deshalb gründen die Spezialisten nun eine eigene Tarifunion.

Von Livio Brandenberg

Die Spezialärzte haben genug. Sie wollen ab sofort wieder selber mit den Krankenkassen und Versicherungen über die Tarife verhandeln. Dazu gründen sie heute in Bern eine eigene Tarifunion und machen sich dadurch unabhängig von den Verhandlungen über die Revision des Ärztetarifs Tarmed und vom Berufsverband der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH. Wie ist es zu diesem Schritt gekommen? «Wir Spezialärzte fühlen uns in Tariffragen von der FMH schlecht vertreten», erklärt Markus Trutmann, Generalsekretär der fmCh. Dieser Dachverband repräsentiert 17 chirurgisch und invasiv tätige Fachgesellschaften (siehe unten).

Um den Zwist innerhalb der Schweizer Ärzteschaft zu verstehen, muss man einige Jahre zurückblenden. Im Krankenversicherungsgesetz (KVG) von 1994 ist grundsätzlich geregelt, dass die Krankenkassen und die Versicherungen die Tarife mit den Ärzten und den Spitälern autonom aushandeln. So entstand etwa der Arzttarif Tarmed, der seit 2004 gilt. 2011 verabschiedete das Bundesparlament jedoch eine Bestimmung im KVG, nach der der Bundesrat eingreifen und den Tarif anpassen kann, sollte dieser der Kostenwahrheit nicht mehr entsprechen und sich die Verhandlungspartner nicht auf eine Revision einigen können. «Wir waren von Anfang an gegen diese Klausel, denn in der Schweiz gilt grundsätzlich die Tarifautonomie», sagt Markus Trutmann. Das sei ein wesentliches Merkmal für ein liberales Gesundheitssystem, so Trutmann. Bei der Ergänzung des Gesetzes 2011 beschwichtigte der Bundesrat und erklärte, die Wahrscheinlichkeit, dass die umstrittene Bestimmung je angewendet werde, sei sehr klein.

Bundesrat schreitet ein

Doch diese Beschwichtigung war im Oktober 2014 bereits wieder vergessen. Auf Druck der Allgemeinärzte schrieb Gesundheitsminister Alain Berset den Tarifpartnern vor, dass Allgemeinärzte zu Lasten der Spezialisten 200 Millionen Franken mehr verdienen sollen. Laut Spezialistenvertreter Trutmann «eine perfide Aufgabe», die zum Scheitern verurteilt war. «Eine Tarifstruktur kann für Umverteilungsübungen dieser Art nicht missbraucht werden. Das KVG ist in dieser Hinsicht eindeutig», sagt er.

Der Bundesrat kürzte im Oktober 2014 per Verordnung die Einnahmen der Spezialärzte pauschal um 8,5 Prozent, «ohne sachliche Begründung, wie es das Gesetz vorschreibt», betont Trutmann. Sachlich wäre gemäss dem fmCh-Geschäftsführer etwa, wenn von Spezialärzten durchgeführte Leistungen billiger geworden wären, etwa wegen reduzierter Materialkosten. «Dass die Kosten bei allen gekürzten Leistungen um exakt 8,5 Prozent billiger geworden wären, konnte der Bundesrat beziehungsweise das Bundesamt für Gesundheit (BAG) nie nachweisen. Die Zahl ist vollkommen unwahrscheinlich», so Trutmann.

Mit seinem Eingreifen habe der Bundesrat genau die Umverteilung erreicht, die er angestrebt habe, sagt Trutmann. «Dass damit ein Besuch beim Hausarzt rund 10 Franken teurer wird, belastet den Patienten nicht, denn die Rechnung übernimmt in der Regel die Krankenkasse», sagt er.

Den Einwand, die Spezialisten würden vom aktuellen Tarif begünstigt – die Spezialisten würden also zu viel verdienen –, lässt die fmCh nicht gelten. Der Tarmed sei damals für alle Ärztegruppen betriebswirtschaftlich berechnet worden. Einkommensunterschiede seien durch die unterschiedlichen Arbeitszeiten bedingt, so Spezialist Trutmann, denn bei den Allgemeinärzten habe es viel mehr Teilzeit-Tätige. Auch hänge die Höhe des Einkommens eines einzelnen Arztes vom Anteil zusatzversicherter Patienten ab.

Bis zu 30 Fachgesellschaften

Der Bundesrat liess die Türe aber einen Spalt weit offen: Die eingreifende Verordnung gelte nur vorübergehend, bis die Verhandlungspartner sich doch noch einigen. Gleichzeitig schaltete sich das BAG in die laufenden Tarifverhandlungen ein. «Quasi millimetergenau werden Vorgaben gemacht, wie wir den Tarif zu gestalten haben», sagt Markus Trutmann und sieht darin eine «Verletzung der Tarifautonomie».

Da die FMH den Vorgaben des Bundes aus Sicht der Spezialisten nicht genügend entgegengetreten ist, haben diese nun das Heft selber in die Hand genommen. Die Tarifproblematik betrifft sämtliche Spezialärzte und nicht nur die bereits in der fmCh vereinten Fachgesellschaften. Deshalb haben sich der neuen Tarifunion laut Trutmann auch die Herz-, die Gefäss-, die Magen-Darm-, die Röntgenärzte sowie zwei Belegärztevereinigungen angeschlossen. Insgesamt sind es bis jetzt also 23 Fachvereine; Trutmann geht davon aus, dass am Schluss rund 30 Fachgesellschaften und damit die Mehrheit aller Spezialärzte in der Tarifunion vertreten sein werden. Doch was, wenn sich auch die Tarifunion in gewissen Punkten nicht einig sein sollte, nachdem man sich nun derart exponiert? Trutmann: «Eine berechtigte Frage. Das ist wie bei politischen Parteien oder der Economiesuisse: Ein Zusammenschluss ist immer nur so stark, wie er einig ist.»

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Verband und Tarif – fmCh und Tarmed

Die Foederatio Medicorum Chirurgicorum Helvetiae – kurz: fmCh – wurde 2004 gegründet. Sie ist der Dachverband der 17 operativ und invasiv tätigen Fachgesellschaften und vertritt die Interessen von rund 6000 Spezialärzten und ihren Patientinnen und Patienten gegenüber den Behörden und in der Öffentlichkeit. Generalsekretär der fmCh ist der Arzt Markus Trutmann (52).

Das Ärztetarifwerk Tarmed ist seit 2004 in Kraft. Tarmed bewertet über 4600 ambulante Einzelleistungen von Ärzten in Praxen und Spitälern mit einer bestimmten Anzahl von Taxpunkten. Abgegolten wird dabei nicht nur die Arbeit des Arztes, beispielsweise für die Diagnosestellung oder den operativen Eingriff, sondern auch der Einsatz technischer Hilfsmittel – vom Tupfer bis zur Nutzung von Operationssälen. Die Struktur segnet der Bundesrat ab. ■

(Dieser Artikel ist in leicht anderer Form erschienen am 23. Januar 2016 in der «Neuen Luzerner Zeitung».)