IV-Bezüger finden kaum mehr Arbeit

IV-Neurenten

Grafik: «Neue Luzerner Zeitung» vom 1. Juni 2016

Renten – Die IV muss sparen. Darum sollen vermehrt Rentenbezüger wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden. Soweit die Theorie, doch in der Praxis harzt es.

Von Livio Brandenberg

Die Invalidenversicherung (IV) muss mehr Rentenbezüger zurück in den Arbeitsmarkt bringen. Das war die Vorgabe des Parlaments und des Bundesrates im Zuge der letzten IV-Revision, die 2012 in Kraft trat. «Wiedereingliederung vor Rente» lautet das Motto. Bis 2017 sollten, so die damalige Zielvorgabe, rund 8000 Renten eingespart werden, indem rund 10 000 bisherige IV-Bezüger in den Arbeitsmarkt integriert werden.

Gestern hat nun das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) die neuesten Zahlen zur IV und zu den Eingliederungsmassnahmen veröffentlicht (siehe auch Zweittext unten). Im vergangenen Jahr hat die IV rund 5 Prozent mehr Personen eine berufliche Eingliederungsmassnahme zugesprochen als im Vorjahr (2015: 38 300, 2014: 36 600). Unter Eingliederungsmassnahme sind etwa zu verstehen: Arbeitsversuche, Umschulungen, Berufsberatungen, Coaching oder finanzielle Zuschüsse an die Arbeitgeber.

Wie das BSV schreibt, konnte die Erwerbsfähigkeit über alle abgeschlossenen Eingliederungsmassnahmen hinweg «in 76 Prozent der Fälle erhalten werden, und eine Invalidität mit Invalidenrente liegt (vorläufig) nicht vor». Erfreulich sei überdies, dass es über zwei Drittel dieser erwerbsfähigen Personen gelinge, im Folgejahr nach Abschluss der Eingliederungsmassnahme wieder ein Einkommen zu erwirtschaften; 28 Prozent mit Einkommen über 3000 Franken, 25 Prozent unter 3000 Franken.

«Potenzial massiv überschätzt»

Unklar bleibt jedoch, wie viele Personen konkret aus der IV in die Erwerbstätigkeit gelangt sind. Ebenso die Frage, ob die ambitiösen Ziele im kommenden Jahr erreicht werden können. In einem Bericht (Forschungsbericht 18/15), den das BSV letztes Jahr in Auftrag gegeben hat, bezieht der Grossteil der kantonalen IV-Stellen klar Stellung: Das Potenzial für Rentenreduktionen durch Wiedereingliederung sei seitens der Politik und der Verwaltung «massiv überschätzt» worden, wodurch nun ein «Missverhältnis von Aufwand und Ertrag» entstanden sei.

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540 Missbrauchsfälle im letzten Jahr
Gestern veröffentlichte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auch Zahlen zum Versicherungsmissbrauch in der IV. Laut BSV waren im letzten Jahr insgesamt 3780 Fälle von Missbrauchsverdacht in Bearbeitung. In 560 Fällen wurde eine Observation eingeleitet. In 540 Fällen konnte ein Versicherungsmissbrauch nachgewiesen werden, bei 140 Fällen davon, nachdem der oder die Verdächtige beobachtet wurde. Damit wurden umgerechnet 410 ganze Renten weniger ausbezahlt. Hochgerechnet entspricht dies einer Einsparung von rund 154 Millionen Franken, wie das BSV schreibt. Die Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs kostete die IV im Jahr 2015 rund 8 Millionen Franken, knapp 7 Millionen für Personal und gut 1 Million für Observationen.
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Dass eine Eingliederung oft nicht möglich sei, liegt laut den kantonalen IV-Stellen hauptsächlich in der restriktiveren Rentenpraxis, die seit knapp zehn Jahren gilt: Wer in den letzten Jahren eine Rente erhalten hat, leidet unter einer so grossen «Krankheitslast, dass er kaum arbeitsfähig ist». Und diejenigen, die unter der grosszügigeren Praxis eine Rente zugesprochen erhielten, sind aufgrund ihres Alters oder weil sie schon zu lange eine Rente bezogen haben nicht mehr integrationsfähig – oder sterben weg. Auf die Kritik angesprochen, sagt Fabio Colle, Leiter Kommunikation der IV-Stellen-Konferenz: «Das ist nicht die Verbandsmeinung. Es handelt sich um Aussagen von einigen IV-Stellen, welche im Rahmen des Forschungsberichtes ihre Erfahrungen und Meinungen eingebracht haben.» Doch er fügt an: «Fakt ist: Die Eingliederung aus Rente ist eine Herausforderung, da viele IV-Rentenbezüger bereits seit langer Zeit nicht mehr arbeiten.»

Ob die eingangs erwähnten Spar- und Eingliederungsziele 2017 erreicht werden, sei «offen», sagt BSV-Mediensprecher Harald Sohns auf Anfrage. Noch im Februar räumte Stefan Ritler, Vizedirektor des BSV, gegenüber der Nachrichtenagentur SDA ein, dass das von der Politik festgelegte Ziel verfehlt werde. Bei den Überprüfungen habe bei vielen Rentenbezügern ein höherer Invaliditätsgrad resultiert. Diesen Punkt habe man unterschätzt. Ritler wertete die IV-Revision aber als positiv, weil sie dazu geführt habe, dass weniger Neurenten ausgesprochen würden (siehe Grafik oben).


Quelle: Youtube/IV-Stellen-Konferenz

Irreführende Zahlen des Bundes?

Die Behindertenorganisation Procap kritisiert dies: «Die Neurenten gehen zurück, und das BSV schliesst daraus, die Integration in den Arbeitsmarkt sei erfolgreich», sagt Martin Boltshauser, Leiter des Rechtsdienstes von Procap. Nach dem Abschluss der beruflichen Massnahme prüfe das BSV rein medizinisch-theoretisch, ob und bis zu welchem Grad eine Person wieder arbeitsfähig ist. «Wird sie als theoretisch arbeitsfähig eingestuft, so wird sie trotz bestehender Behinderung als eingegliedert betrachtet, steht aber häufig ohne Stelle da», sagt Boltshauser. Ein Mensch sei integriert, wenn er eine Stelle habe, und nicht, wenn er nach drei Monaten wieder aus dem Arbeitsmarkt fliege. Das BSV drehe die Logik und sage: Integriert ist, wer keine Rente hat. «So gesehen sind die Zahlen irreführend», sagt Boltshauser.

Laut dem BSV sind exakte Zahlen zu den Wiedereingliederungsmassnahmen erst 2018 oder 2019 zu erwarten. ■

(Dieser Artikel ist in leicht anderer Form erschienen am 1. Juni 2016 in der «Neuen Luzerner Zeitung».