Bis zu welchem Alter muss die Krankenkasse eine künstliche Befruchtung zahlen?

Befruchtung Flickr

Künstliche Befruchtung als Streitfall, Bild: Flickr/gags9999

Bundesgericht – In einem öffentlichen Urteil hat das Bundesgericht in Luzern keine Altersgrenze festgelegt, ab der eine künstliche Befruchtung von der Krankenkasse nicht mehr vergütet werden muss. Die Sache geht zurück an das Kantonsgericht Waadt.

Von Livio Brandenberg

Soll die Krankenkasse einer 44-jährigen Frau eine künstliche Befruchtung bezahlen müssen, nachdem diese bereits zweimal gescheitert ist? Und: Ab welchem Alter müssen Fruchtbarkeitsbehandlungen generell nicht mehr vergütet werden? Mit diesen Fragen beschäftigte sich gestern das Bundesgericht in Luzern.

Konkret behandelten die drei Bundesrichterinnen und zwei Bundesrichter den Fall einer heute 48-jährigen Frau aus dem Kanton Waadt. Im Jahr 2011, im Alter von 43 Jahren, wurde diese von ihrer Frauenärztin wegen Unfruchtbarkeit mittels Stimulation der Eierstöcke und Einführung von Samenzellen in die Gebärmutter (künstliche Insemination) behandelt. Die Krankenkasse der Frau, die Intras, lehnte das Gesuch, die Kosten für die Behandlung zu übernehmen, anfänglich ab. Die Intras argumentierte, die Kriterien, wonach eine solche Behandlung wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein müsse, seien bei einer Frau über 40 Jahre nicht erfüllt.

Gilt nicht als Krankheit

Die behandelnde Gynäkologin entgegnete der Krankenkasse, die Hormonwerte ihrer Patientin seien günstig («favorable»), die Chancen auf eine Schwangerschaft entsprechend gut. Als die Betroffene im Laufe der Fruchtbarkeitsbehandlung mit Zwillingen schwanger wurde, lenkte die Intras ein und erklärte, sie übernehme die Kosten. Kurz darauf, in der neunten Schwangerschaftswoche, erlitt die Frau aber eine Fehlgeburt. Ein Jahr später lehnte es die Krankenkasse ab, weitere Behandlungen zu bezahlen. Die Intras begründete die Zurückweisung des Gesuchs der mittlerweile 44-Jährigen damit, dass Fruchtbarkeitsprobleme bei einer Frau im Alter von über 40 Jahren nicht als Krankheit gelten könnten, sondern rein altersbedingt seien. Eine Fruchtbarkeitsbehandlung bei über 40-jährigen Frauen könne nicht mehr zu Lasten der obligatorischen Grundversicherung vorgenommen werden.

Diesen Bescheid akzeptierte die Betroffene nicht. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Waadt hiess die Beschwerde im Mai 2015 gut und entschied, dass die Intras die Behandlung übernehmen müsse. Daraufhin gelangte die Versicherung an das Bundesgericht und verlangte die Aufhebung des Urteils.

Konsens unter Fachleuten fehlt

Das Bundesgericht hat gestern die Frage offengelassen, bis zu welchem Alter eine Fruchtbarkeitsbehandlung durch die Krankenkasse übernommen werden muss. Es sei nicht die Aufgabe des Gerichts, eine Alterslimite festzuschreiben – auch wenn die Intras mit ihrer Beschwerde genau dies beabsichtigt habe, sagte ein Bundesrichter. Das Setzen einer solchen Grenze sei klar Sache des Gesetz- beziehungsweise des Verordnungsgebers. «Ich bin ein wenig erstaunt und kann es mir bis heute nicht erklären, dass der Verordnungsgeber diese Limite nicht festschreibt oder festgeschrieben hat», so der Bundesrichter weiter. Es sei nicht Aufgabe des Bundesgerichts, dies nun nachzuholen.


«Ich bin erstaunt, dass der Verordnungsgeber die Alterslimite bis heute nicht festgeschrieben hat.»
Ein Bundesrichter in der öffentlichen Verhandlung vom 10. Mai 2016.

 

Verschiedene Richterinnen und Richter argumentierten, es brauche durchaus eine festgeschriebene Alterslimite, diese müsse aber auf einem breiten Konsens von medizinischen Fachleuten beruhen. Den gebe es momentan nicht, weshalb die fehlende Wirksamkeit einer Fruchtbarkeitsbehandlung «nicht allein mit dem Alter einer Frau begründet werden» könne. Die Erfolgschancen müssten vielmehr in jedem Einzelfall abgeklärt werden. Immerhin würde mit einer Altersgrenze Rechtsgleichheit geschaffen, da die Abgrenzung einer krankheitsbedingten von einer altersbedingten Unfruchtbarkeit schwierig sei. «Die Altersfrage muss geklärt werden», fasste die vorsitzende Bundesrichterin zusammen.

Zurück ans kantonale Gericht

Auch über die Frage, ob die Krankenkasse im vorliegenden Fall weitere Behandlungen übernehmen muss oder müsste – die Frau ist mittlerweile 48 Jahre alt –, hat das Bundesgericht nicht entschieden. Es wies den Fall zur weiteren Abklärung und neuen Beurteilung an das kantonale Gericht zurück. Der Sachverhalt, die Frage etwa, warum die Frau überhaupt unfruchtbar ist oder wie gross die Risiken einer Fehlgeburt bei einer erneuten Schwangerschaft wären, seien nicht genügend abgeklärt worden. ■

Urteil  9C_435/2015  vom 10. Mai 2016.

(Dieser Artikel ist in leicht anderer Form erschienen am 11. Mai 2016 in der «Neuen Luzerner Zeitung».)