Bei der Suva haben die Detektive ausspioniert

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Das Suva-Hauptgebäude in Luzern, Bild: Boris Bürgisser

Versicherungsbetrug – Die Suva setzt vorläufig keine Detektive mehr ein zur Überwachung von verdächtigen Versicherten. Damit reagiert sie auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Von Livio Brandenberg

Gemäss einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom Dienstag darf eine Schweizer Versicherung ihre Versicherten bei Betrugsverdacht nicht mit Detektiven überwachen lassen. Dazu fehle in der Schweiz die gesetzliche Grundlage, so die Richter in Strassburg. Dieses Urteil hat nun erste Konsequenzen: Gestern teilte die Suva mit, sie werde «vorläufig keine» Detektive mehr einsetzen. Bis anhin liess die Suva mutmassliche Versicherungsbetrüger in Einzelfällen observieren. Mit dem Fall, der bis an den EGMR gelangte, hatte die Suva indes nichts zu tun.

Dabei war es um die Überwachung einer 62-jährigen Schweizerin aus dem Kanton Zürich gegangen, die eine 100-prozentige Invalidenrente bezog, die jedoch von Detektiven beobachtet worden war, wie sie den Hund ausführte, einkaufen ging und längere Strecken Auto fuhr. Angeordnet hatte die Überwachung die Unfallversicherung. Das Bundesgericht war zum Schluss gekommen, diese sei legal gewesen. Der EGMR aber urteilte, das Recht der Frau auf Schutz des Privat­lebens sei mit dem Einsatz von Detektiven verletzt worden.

Ob die Suva in Zukunft definitiv auf Detektive verzichten wird, kann Sprecher Serkan Isik auf Anfrage nicht sagen. Man müsse zuerst das EGMR-Urteil analysieren. «Der Verzicht auf Observationen gilt als ‹Sofortmassnahme› auf unbestimmte Zeit», so Isik. Bei der Suva erachte man Überwachungen aber grundsätzlich «als sinnvoll». Gleichzeitig wolle die Suva stets rechtlich korrekt handeln, sagt Isik.

Dass sich die Überwachung für die Suva beziehungsweise für deren ehrliche Prämienzahler lohnt, belegen die Zahlen: Seit der Einführung der Missbrauchsbekämpfung 2006 hat die Suva laut eigenen Angaben 117 Millionen Franken an Prämiengeldern eingespart. Pro Jahr kamen bei etwa 10 bis 15 Verdachtsfällen Detektive zum Einsatz. 2015 klärte die Suva 574 Verdachtsfälle ab.

Die CSS dürfte der Suva folgen

Ähnlich wie die Suva reagiert der grösste Grundversicherer der Schweiz, die CSS mit Sitz in Luzern, auf den Richterspruch aus Strassburg. «Wir müssen dieses Urteil nun genauer analysieren», sagt Sprecherin Christina Wettstein. Man prüfe immer im Einzelfall, welche Mittel man einsetzen wolle, so Wettstein. Die CSS habe bisher «sehr selten» Detektive eingesetzt. Laut der Sprecherin waren es zwei Fälle 2015 und vier im laufenden Jahr.

Der Krankenversicherer geht erst seit 2014 mit einem spezialisierten Team gegen Versicherungsmissbrauch vor. Im vergangenen Jahr hat die CSS laut eigenen Angaben Betrugsfälle im Volumen von 3,6 Millionen Franken aufgedeckt. In diesem Jahr sind es bis und mit Juni 4,8 Millionen.

Zum Urteil des EGMR und der künftigen Handhabung von Detektiven sagt Christina Wettstein, auch wenn die CSS bisher ohnehin sehr selten Detektive eingesetzt habe, prüfe man nun «eine Praxisänderung». Will heissen: Die CSS dürfte der Suva – zumindest vorerst – folgen und auf Privatdetektive ver­zichten.

Für Experten ist seit der Rüge aus Strassburg sowieso klar: Detektive haben in der Schweiz ausspioniert. «In der Praxis bedeutet das, dass Unfallversicherungen keine Überwachung mehr anordnen dürfen», kommentierte der Sozialversicherungsrechtler Thomas Gächter das EGMR-Urteil diese Woche in der «Luzerner Zeitung». Zudem könne angenommen werden, dass davon auch die Invalidenversicherung (IV) betroffen sei. Anderer Meinung ist in diesem Punkt das Bundesamt für Sozialversicherungen. Dort ist man überzeugt, dass die gesetzliche Grundlage für Observationen in der IV ausreicht.

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Update:

In der Ausgabe vom 24. Oktober 2016 berichtet der «Blick», der Zürcher SVP-Nationalrat Mauro Tuena wolle mit einer parlamentarischen Initiative nun möglichst schnell die gesetzlichen Grundlagen dafür schaffen, dass weiterhin beziehungsweise wieder Überwachungen von verdächtigen Versicherten möglich sind. Unterstützt werde Tuena dabei von SP-Ständerat Daniel Jositsch (ZH).

(Dieser Artikel ist in leicht anderer Form erschienen am 21. Oktober 2016 in der «Luzerner Zeitung» und dem «St. Galler Tagblatt».)